Der weite Blick zum Horizont (ein Brief aus São Paulo)

Im Archiv liegt der Brief, den ich am 26. Februar 1999 in São Paulo an Flora Ruchat-Roncati adressierte. Er wurde am darauffolgenden 8. März geöffnet, wie der Stempel folgern lässt. Ausser Grüssen überbrachte der Brief den Wunsch, eine Ausstellung zur Arbeit von Lina Bo Bardi nach Zürich zu bringen. Beigelegt war auch eine neue Publikation – damals noch eine der wenigen über die italo-brasilianische Architektin. Sie war 1914 in Rom geboren, reiste 1946 nach Brasilien und starb 1992, kurz bevor ihre erste Monografie erschien. Dies gab den Anstoss für zwei Arbeiten während meines Studiums an der ETH Zürich, und dann nach erfolgreich abgelegtem Diplom dank einem Reisestipendium für eine Studienreise durch Brasilien.

Der Brief im Archiv von Flora Ruchat-Roncati gibt Anlass zur Frage, warum gerade sie die Adressatin meines Anliegens war. Als frisch diplomierte Architektin unterwegs in Brasilien (dokumentiert im Reisetagebuch „concrete levitation – schwebender Beton), besuchte ich das von Lina Bo Bardi 1950 in den Hügeln über São Paulo entworfene Glashaus. Im offenen Wohnraum hörten wir die Schreie ihres kranken Ehemanns, der wenige Monate später auch starb. Was bleibt, ist ihr gebautes Werk, das sie zu einer der wichtigsten Architektinnen des 20. Jahrhunderts macht. Dass ich den Brief an Flora, wie wir Studierende sie alle nannten (keiner der männlichen Professoren wurde so konsequent mit Vornamen bezeichnet) richtete, erschien mir selbstverständlich, hatte sie doch das Wahlfach „Frauen in der Geschichte des Bauens“ begründet. Es war weniger ihre italienische Vergangenheit – Flora Ruchat-Roncati wie Lina Bo Bardi hatten einige Jahre in Rom gearbeitet resp. studiert – als Floras Präsenz als Lehrerin, durch die ich mich ihr verbunden fühlte. Im Rückblick erscheint sie wie ein Fixpunkt meiner Lehrjahre in der Architektur, und zwar weniger wie ein Leuchtturm als wie ein Horizont, der immer wieder auftaucht.

Der Horizont, den ich auch im Brief vom Februar 1999 erwähnt hatte – dass „die Offenheit und der weite Blick zum Horizont“ des Museu de Arte de São Paulo wieder zurückgewonnen werden müssten – half mir immer wieder in der Interpretation der Arbeiten von Lina Bo Bardi. Die Idee einer Ausstellung materialisierte sich noch 1999, allerdings in New York, wo ich für einige Jahre als Architektin arbeitete. Am Buell Center der Columbia University konnten wir, eine Gruppe von vier Architektinnen und Architekten, viele Originalzeichnungen und auch die unglückliche Transformation des offenen Raumes des Museu de Arte de São Paulo in einer Ausstellung mit dem Titel „Open Space: Continuation or Crisis. The Museu de Arte de São Paulo by Lina Bo Bardi“ zeigen. Nach Zürich kam eine ähnliche Ausstellung dann später, auf anderen Wegen, im Jahr 2001.

Es war im selben Jahr, als Anja Maissen das Wahlfach zur Geschichte des Bauens aus Frauenhand weiterführte und mich zu einem Vortrag über Lina Bo Bardi eingeladen hatte. Damals war Flora seit zehn Jahren wie eine immer wieder auftauchende Linie in meinem Architektinnenleben präsent: 1991 und 1996 arbeitete ich im Büro Schnebli Ammann Ruchat, einmal kürzer zum Schnuppern vor dem Architekturstudium, das zweite Mal länger als Berufspraktikum an den Planungen für das Bâtiment de microtechnique der EPFL. 1992 im zweiten Jahreskurs und 1997 im Diplomsemester studierte ich bei ihr an der ETH Zürich. Während dieser Zeit kümmerte es mich wenig, ob sie die berühmteste unter den Professoren war, noch spielte es eine Rolle, dass sie eine Frau war. – Ihre Professur erschien mir einfach als die beste Option, etwas über Architektur zu lernen. Während meines Austauschsemesters in Harvard stellte ich allerdings überrascht fest, dass ich mir ein Programm mit vier Fächern bei vier Professorinnen zusammengestellt hatte – wie es in Zürich gar nicht möglich und scheinbar doch ein Bedürfnis war, das dann während eines kurzen Gastsemesters auf der anderen Seite des Atlantiks erfüllt wurde.

Der Brief aus Brasilien war ein Ausgangspunkt für mehrere Gespräche mit Flora Ruchat-Roncati, die für das Archiv wohl interessanter wären als dieser etwas hastig gekritzelte Brief von unterwegs. Nun liegt im Archiv eben dieses eine Stück Papier, das Grüsse und Wünsche von Südamerika nach Europa überbrachte. 

Sabine von Fischer

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